By Monika Ankele
“I’d rather stay here with all the madmen / Than perish with the sad men.”[1]
David Bowie in Gugging
Als im November 2016 das Auktionshaus Sotheby’s Werke aus der Kunstsammlung der Pop-Ikone David Bowie versteigerte, befanden sich darunter auch Arbeiten der sogenannten „Gugginger Künstler“ August Walla, Oswald Tschirtner, Johann Garber und Johann Fischer. Auf Einladung des Künstlers André Heller hatte David Bowie gemeinsam mit dem Musikproduzenten Brian Eno im September 1994 die psychiatrische Einrichtung und das daran angeschlossene „Haus der Künstler“ im niederösterreichischen Gugging bei Klosterneuburg besucht. Entstanden ist dabei eine Serie von 44 schwarz-weiß Fotografien, aufgenommen von der Fotografin Christine de Grancy, die über Vermittlung Hellers diese Zusammenkunft dokumentierte. Gezeigt werden die Arbeiten – die Bowie selbst übrigens nie sah – nun erstmals in der Galerie Crone in Wien.
Das „Haus der Künstler“
Die Geschichte des „Hauses der Künstler“ reicht bis in die 1950er Jahre zurück, als der im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg tätige Psychiater Leo Navratil seine Patienten zu therapeutischen und diagnostischen Zwecken zum Zeichnen anregte. 1981 wurde schließlich auf sein Betreiben hin am Rande des Klinikgeländes das „Haus der Künstler“ gegründet. Das Haus bot ausgewählten (männlichen) Patienten mit chronischen psychischen Erkrankungen nicht nur einen Wohnraum, sondern auch einen Raum, an dem sie sich, unter Anleitung und Anregung Navratils, künstlerisch entfalten konnten. Jean Dubuffet, der Mitte der 1940er Jahre den Begriff der „Art Brut“ prägte und damit eine „unverbildete, rohe“ Kunst bezeichnete, machte den Begriff auch für die Werke der Gugginger Künstler geltend: auch sie seien, wie Navratil es formulierte, abseits eines kulturellen Kontextes entstanden. Diese Perspektive auf die Werke findet sich auch im Begriff der „Outsider Art“ wieder, den der Kunsthistoriker Roger Cardinal 1972 prägte. Unreflektiert blieb jedoch der Einfluss, den Navratil selbst auf die Künstler und die Gestaltung ihrer Werke ausübte, die vielfach erst auf seine Anregungen hin künstlerisch tätig wurden.[2] 1986 übernahm Navratils Nachfolger Johann Feilacher die Leitung des Hauses und baute die Gugginger Künstler zu einer Marke auf, deren Werke am Kunstmarkt hohe Preise erzielen und mit denen sie weltweit in Sammlungen und Museen vertreten sind.
„Irrenkunst“ als Faszinosum
Mit Büchern wie Hans Prinzhorns „Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung“ (Berlin 1922) oder Walter Morgenthalers „Adolf Wölfli. Ein Geisteskranker als Künstler“ (Bern 1921) zog die Kunst von psychisch Kranken bereits im frühen 20. Jahrhundert das Interesse von Künstlern wie Max Ernst, Paul Klee oder Alfred Kubin auf sich. Da diese Werke keinen normativen Beschränkungen zu unterliegen schienen, konnten sie Impulse für den Aufbruch liefern, den die Künstler der Moderne mit ihrer Suche nach neuen Formen der Darstellung anstrebten. Hans Prinzhorn, Psychiater und Kunsthistoriker, sah in den Werken von Patienten, die mit Schizophrenie diagnostiziert wurden, eine enge „Verwandtschaft (…) zu der Kunst unserer Zeit“.[3] Dabei beruhe die Verwandtschaft zwischen der „Kunst von Geisteskranken“ und der „Kunst unserer Zeit“ darauf, „daß diese [die Kunst unserer Zeit, M.A.] in ihrem Drange nach Intuition und Inspiration seelische Einstellungen bewußt erstrebt und hervorzurufen sucht, die zwangsläufig in der Schizophrenie auftreten“ (ebda.). Die Vorstellung, dass psychisch Kranke einen direkten und unverstellten Blick auf die Welt haben und dass die Krankheit Inspiration und Kreativität provoziere, prägte lange Zeit die Faszination, die den Werken von Psychiatriepatienten entgegengebracht wurde. Begriffe wie Authentizität, Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit nahmen in diesem Kontext einen zentralen Stellenwert ein und förderten zugleich idealisierte Vorstellungen psychischen Krankseins. Der Psychiater Paul Meunier schrieb 1907 unter dem Pseudonym Marcel Réja in seinem Buch „Die Kunst bei den Verrückten“: „Das Genie zeigt den menschlichen Geist in seiner ganzen Schönheit, während der Verrückte ihn durch arglose Unbeholfenheit in seiner Nacktheit enthüllt. Wir werden hierdurch weniger geblendet, haben dafür aber die Chance, klarer zu sehen.“[4] Eine Sonderstellung attestierte Jahrzehnte später auch der schweizerische Psychiater Alfred Bader dem „schizophrene[n] Kranke[n]“, der, so Bader, „eingesperrt in seinem Zaubergarten, (…) uns manchmal eine besondere Blume über den Zaun [wirft]. Der Künstler begibt sich im Zustand der Inspiration in den Garten, um sie zu pflücken, besser gesagt: um sie zu suchen. Der Kranke braucht jedenfalls nicht zu suchen, denn er sitzt ja ständig im Garten drin.“[5]
Jenen „Garten“, den Bader hier euphemistisch als Sinnbild eines Ortes sprudelnder Kreativität beschreibt, besuchten also David Bowie und Brian Eno im September 1994. Sie trafen hier unter anderem auf die „Gugginger Künstler“ August Walla, Oswald Tschirtner und Johann Korec. Die Augenblicke, die sich in den Fotografien von de Grancy zu einem Bild verdichten, zeugen von Konzentration und Aufmerksamkeit, von Achtung und auch Bewunderung, die die Besucher hier den Künstlern und ihren Werken entgegenbringen. Sich austauschen, zuhören, erzählen, zeigen, sammeln und schauen sind Begriffe, die die Bilder evozieren und die meinen Rundgang durch die Ausstellung begleiten. David Bowie ist hier nicht unnahbarer Superstar, sondern erkundet den Ort und seine Bewohner mit einem fast ethnologischen Interesse und überträgt seine Beobachtungen akribisch in ein kleines Notizbuch. Wir sehen die Besucher und Künstler um einen großen Tisch versammelt beim Nachmittagskaffee, wir sehen sie in dem von August Walla gestalteten Zimmer, in der Wiese sitzend: schauend, zuhörend, aufnehmend.
In Berührung mit Schizophrenie kam Bowie bereits in jungen Jahren: sein zehn Jahre älterer Halbbruder Terry Burns, der David an Jazz und Poesie heranführte, wurde 1969 mit Schizophrenie diagnostiziert und blieb Zeit seines Lebens in einer psychiatrischen Einrichtung interniert. 1985 nahm sich Terry das Leben. Die Klinik, in der er den Großteil seines Lebens verbrachte, verewigte Bowie auf dem Cover seiner Platte „The Man who sold the world“, die 1970 erschienen ist. Die Faszination für das Andere und das Außerhalb und die mögliche Freiheit, die dieser nicht-normierte Raum im besten Fall eröffnen kann, prägten auch Bowies künstlerische Arbeit. Man denke nur an die Alter Egos, die er mit Figuren wie Ziggy Stardust oder Aladdin Sane geschaffen hat. “Im Nachhinein fragt man sich, was in David Bowie an diesem Nachmittag in Gugging vorgegangen sein mag”, so Christine de Grancy. „Sein stiller, nachdenklicher, durchdringender Blick. Sein Schweigen, seine stummen Fragen, die sich in seinem Innersten gestellt haben mögen – all das schwebt in diesen Bildern irgendwie mit. Es war ein Tag, an dem Bowie vermutlich gar nicht anders konnte, als an seinen verlorenen Bruder zu denken.“
Zu gerne würde man hören, was an diesem Septembertag gesprochen wurde; zu gerne würde man sehen, was die Augenpaare sehen, die von der Kamera festgehalten wurden; zu gerne die Gedanken denken, die sich hier in den Bildern zu einer konzentrierten Stille verdichten. Doch nun sind wir es, die Betrachtenden, die außerhalb sind, „outside“. „Outside“ ist auch der Titel des gleichnamigen Albums von David Bowie, das in Zusammenarbeit mit Brian Eno ein Jahr nach ihrem Besuch in Gugging entstanden ist. Das Album thematisiert grundlegende Fragen des Seins: es geht um Wahnsinn, Tod und Kunst. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Albums erzählte Bowie, dass es von ihrem Besuch in Gugging inspiriert und „aus der Atmosphäre von Gugging“ heraus entstanden sei. Jetzt möchte man die Bilder noch einmal sehen. Mit „Outside“ als Soundtrack.
Die Ausstellung „Bowie in Gugging“ von Christine de Grancy ist noch bis 17. Februar in der Galerie Crone, Getreidemarkt 14, 1010 Wien zu sehen.




[1] Diese Textzeile ist aus dem Song „All the Madmen“ von David Bowie, der 1970 auf dem Album „The man who sold the world“ erschienen ist.
[2] Vgl. Leo Navratil, Art Brut und Psychiatrie. Compendium. Wien 1999.
[3] Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung. (Orig. Berlin 1922, 6. Aufl.) Wien 2001, S. 349.
[4] Réja, Die Kunst bei den Verrückten. (frz. Orig. 1907) Wien/New York 1997, S. 19.
[5] Alfred Bader, Zugang zur Bildnerei der Schizophrenen vor und nach Prinzhorn (1971). In: Derselbe (Hg.), Geisteskrankheit, bildnerischer Ausdruck und Kunst. Eine Sammlung von Texten zur Psychopathologie des Schöpferischen. Bern/Stuttgart/Wien 1975, S. 107-119, hier: 117, zit. n.: Michael Günter, Gestaltungstherapie. Zur Geschichte der Mal-Ateliers in psychiatrischen Kliniken. Bern/Stuttgart/Toronto 1989, S. 108. Alfred Bader publizierte viele Jahre gemeinsam mit Leo Navratil.