Ende August 1946 reiste Manfred Bleuler, Leiter der Züricher Universitätspsychiatrie Burghölzli nach Skandinavien und ließ sich dort eine größere Zahl von leukotomisierten Fällen zeigen. Von seinem klinischen Eindruck der dort operierten Patient_innen überzeugt beschloss er schließlich, die Eingriffe auch in der Schweiz durchzuführen. Marietta Meier macht die Debatte um die Psychochirurgie in der Schweiz zum Ausgangspunkt ihrer Monographie, ergänzt diese aber auch durch Diskurse aus dem europäischen Ausland. Damit legt sie erstmals eine Untersuchung der Psychochirurgie im deutschsprachigen Kontext vor. Während sich zwei bekannte US-amerikanische Studien aus den 1990er Jahren vor allem der Frage nach der Entwicklung therapeutischer Verfahren in der Psychiatrie von den frühen Versuchen bis zur verifizierten Therapie und der Frage nach der Co-Konstruktion der Effektivität der Leukotomie durch Arzt und Patient in der klinischen Praxis widmen, fragt Meier nach der Metapher des „affektiven Stachels“, also der Frage, wo der Stachel der affektiven Spannung steckt: Was empfand man in der Nachkriegszeit als Stachel, was sollte durch einen psychochirurgischen Eingriff entfernt werden? Marietta Meier versucht dieser Frage mit Foucaults Konzept der Problematisierung nachzugehen. Diesem Konzept folgend analysiert die Autorin, wie und warum bestimmte Phänomene zu einem Problem wurden. Dabei untersucht sie vor allem drei Ebenen: Zuerst fragt sie, auf welche Umstände die Leukotomie eine Antwort geben sollte, darüber hinaus möchte sie wissen in welchem Wechselverhältnis Kontinuitäten und Wandel, Ordnung und Veränderung hier miteinander stehen ohne diese zugleich als chronologische Abfolge begreifen zu müssen und schließlich möchte sie anhand von Quellen aus unterschiedlichen Kontexten wie Publikationen und Krankenakten herausarbeiten, welche unterschiedlichen Facetten debattiert und welches Verhalten je nach Kontext zum Problem wurde. Die Autorin versteht ihren Ansatz dabei als kulturhistorischen, der danach fragt, wie die Akteure ihrem Handeln Sinn verleihen (S. 17-19). Meier gliedert ihre Untersuchung dabei in neun Kapitel. Im ersten Kapitel schildert sie die Einführung des Verfahrens in der Schweiz und die ersten Behandlungsfälle und kontextualisiert diese insbesondere mit den somatischen Verfahren. Das zweite Kapitel widmet sich der Frage, wie die Psychiater_innen sich die Wirkung des Verfahrens erklärten. Dabei arbeitet Meier heraus, dass die Psychochirurgie sich erst dann weiter durchsetzen konnte, als eine wissenschaftliche überzeugende Begründung vorgelegt werden konnte. Argumentierte der „Entdecker“ der Psychochirurgie, der Portugiese Antonio Egas Moniz noch damit, mit dem Eingriff fixierte Nervenbahnen zu durchtrennen und verortete die Technik deshalb in einer vielen Psychiater_innen als veraltet geltenden Lokalisationslehre, gelang es den amerikanischen Psychiater_innen Freemann und Watts schließlich ein Erklärungsmodell vorzulegen, das auf die Verbindung von Thalamus und Frontallappen als Regulationsinstanz für die Intensität von Gefühlen rekurrierte und auf die Unterbrechung der affektiven Spannung durch die deren Durchtrennung hinwies. Diese Verbindung des Verfahrens mit der Beeinflussung von Emotionen sorgte nach Meier dafür, dass sich die affektive Spannung als boundary concept zwischen Hirnforschung, klinischer Forschung und psychiatrischer Praxis durchsetzen konnte. Im dritten Kapitel beschreibt Meier die Verbreitung der Leukotomie in Europa und insbesondere in der Schweiz als Folge der aktuellen Probleme der Nachkriegspsychiatrie, die wiederholt für eine Überfüllung der Anstalt sorgte und deshalb die affektiven Spannungen der Patient_innen verstärkte und in einem neuen Licht erscheinen ließ. Anschließend diskutiert sie im vierten Kapitel die wissenschaftliche Debatte zur Psychochirurgie. Dabei wurde v.a. über den Preis der Eingriffe ins Gehirn, die schon damals als letzter Behandlungsschritt galten und selbst von den Befürworter_innen nur mit ca. 1/3 angegeben wurden diskutiert. War ein sozialer Erfolg schon dann erreicht, wenn die Patient_innen weniger störten? Wie bewertete man die damit einhergehende irreversible Persönlichkeitsveränderung? Nicht zuletzt über letzte Fragen diskutierten Psychiater, Philosophen und Theologen kontrovers. Wie und nach welchen Kriterien Patienten der unruhigen Station zum Fall wurden ist Teil des fünften Kapitels. Insbesondere rückt hier ins Zentrum der Analyse, wann die affektiven Spannungen als so schwerwiegend angesehen wurden, dass sie eine Leukotomie rechtfertigten. Meier fragt hier nach der Semantik der Problematisierungen und arbeitet anhand ihres Quellenkorpus von 300 Krankenakten Schlüsselbegriffe heraus und kontextualisiert sie im zeitlichen Verlauf der Einträge um zu zeigen, wie ein kohärentes Bild eines Patienten entstand, der zum Fall für eine Leukotomie werden konnte. Wie dargestellt wird, waren die Erregungszustände der Patient_innen das maßgebliche Argument für einen operativen Eingriff, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status und der Diagnose, denn oft wurden die Patienten vor allem aus der pflegerischen Indikation heraus operiert. Im sechsten Kapitel zum zirkulierendem Wissen widmet sich Meier der Frage, wie die Psychiater_innen den Laien – Angehörigen und der interessierten Öffentlichkeit –den Eingriff zu plausibilisieren versuchten. Gegenüber den genannten Gruppen wurde statt Spannung eher der Begriff der Erregung gebraucht. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin schließlich der Frage, warum im Wesentlichen Frauen für einen operativen Eingriff ausgewählt wurden. Sie erklärt diese Entscheidung mit dem Doppelstandard seelischer Gesundheit, der störendes Verhalten von Frauen eine besondere Bedeutung zumaß. Auch kann Meier aufzeigen, dass auf der Mikroebene das störende Verhalten auf den Frauenstationen die Anstaltsordnung erheblicher störte und eine Leukotomie auch der Wiederherstellung dieser Ordnung und der pflegerischen Vereinfachung diente. Das vorletzte Kapitel widmet sich der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hier gelingt es der Autorin ausgesprochen überzeugend, den Prozess der klinischen Wissensbildung von der Reduktion der differenzierten Schilderung in der Akte in eine kasuistische Berichtsform (Erzählen), der Bildung neuer quantifizierbarer Kategorien aus diesen Kasuistiken (Zählen) und den Versuchen, die Effekte zu verobjektivieren (Lehren) zu verdeutlichen. Im letzten Kapitel beschreibt die Autorin schließlich den langsamen Niedergang der Psychochirurgie im Kontext neuer Behandlungsverfahren. Anders als in klassischen Fortschrittsnarrativen ausgeführt wird, beurteilt sie die Einführung neuer medikamentöser Verfahren in der Psychiatrie in den 1950er Jahren nicht als ursächlich für den Rückgang der Operationen. Viel entscheidender für eine abnehmende Zahl sei ein neuer Denkstil gewesen, der psychotherapeutischen Verfahren eine neue Bedeutung beimaß. Die Autorin schließt ihre Arbeit schließlich mit vier Thesen zur Nachkriegsgesellschaft. Erstens sei die Psychochirurgie als Symptom für die Debatten der Zeit um Technisierung und Entseelung der bewerten. Der Siegeszug der Leukotomie sei nur möglich gewesen, da erstens nach dem zweiten Weltkrieg ein hierarchisches Persönlichkeitskonzept dominierte, dass auf einem vagen, holistischen Persönlichkeitskonzept beruhte. Die Subjektvorstellungen der Zeit habe zudem zweitens die soziale Anpassung höher bewertet als die Individualität des Patienten. Der Kontext des zweiten Weltkrieges habe drittens das Ziel, Krankheiten zu heilen zu der Norm verschoben, Patienten wieder zu funktionierenden Staatsbürgern zu machen. Wie Meier schließt, sei aber viertens von einem diskontinuierlichen Wandel auszugehen, in dem auch kritische Stimmen sich seit den 1960er Jahren wieder Gehör verschaffen konnten.
Meier legt mit dieser Studie eine sehr gut geschriebene, souverän durchgeführte und wissenschaftshistorisch auf dem neusten Stand argumentierende Studie vor. Insbesondere das Konzept der affektiven Spannungen wird als Konzept konsequent umgesetzt. Die Studie sei also jedem, der sich für die Nachkriegspsychiatrie interessiert unbedingt zur Lektüre empfohlen.
Ein Kritikpunkt sei hier dennoch erwähnt: Meier räumt zwar verschiedenen Protagonist_innen in der Diskussion um die Lobotomie (Ärzten, Pflegepersonal, Angehörigen und Laien) einen größeren Raum ein, die Patient_innen selber bleiben aber seltsam stumm bzw. die Patientengeschichten werden eher aus einem ärztlichen Blick geschildert. Lediglich anhand zweier Beispiele versucht Meier einen Einblick in die Selbsterzählungen der Patient_innen zu geben. Dies ist umso erstaunlicher, da die Autorin angibt, dass solche Selbstzeugnisse in ca. 20% der Akten, also ca. 50, vorhanden waren. Das Argument, dass diese Stimmen von den Ärzten zwar gesammelt wurden, für die Entscheidung über die Erfolge einer Lobotomie aber nicht maßgeblich waren und kein Gehör fanden ist zwar vermutlich richtig, überzeugt aber als Argument gegen eine Analyse dieser Dokumente nicht. Diese Begründung verdoppelt die historische Sichtweise der Ärzte und das geschilderte asymmetrische Machtverhältnis eher, statt die Vielstimmigkeit und die unterschiedlichen Sichtweisen transparent zu machen. In gewisser Weise hat die Autorin den Patient_innen damit auch den affektiven Stachel genommen.
Marietta Meier: Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem zweiten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein 2015